Rückblick in die Zukunft: RSI bei der BrandEx2020

Schon seit Jahren lauert das Thema Remote Simultaneous Interpreting (RSI), also Simultandolmetschen aus der Ferne oder Distanzdolmetschen, am Horizont der Dolmetschbranche. So wie die künstliche Intelligenz Unsicherheiten in vielen Berufszweigen hervorruft, ist auch diese Entwicklung Inhalt vieler kontroverser Diskussionen und die Positionen dazu sind vielfältig. Mit dem Einschlag der Corona-Pandemie wurde diese Form des Simultandolmetschens brandaktuell und rückte in den Mittelpunkt. Im Januar 2020 hatte ich die Möglichkeit, im High-End RSI Hub der Firma Neumann und Müller bei Stuttgart die BrandEx-Konferenz in Dortmund simultan ins Spanische zu verdolmetschen. Kurz darauf habe ich im Fachmagazin des Verbands der Konferenzdolmetscher im BDÜ e.V. ein Erfahrungsbericht, eingebettet in einem Zukunftsszenario, veröffentlicht. Ist diese Zukunft, angesichts der aktuellen Entwicklungen, näher als wir denken?

Mein Artikel, erschienen im VKD Kurier im Frühjahr 2020:

Die Kinder schlafen noch, während ich meinen morgendlichen Tee austrinke. Heute ist Ari dran, sie aufzuwecken und dafür zu sorgen, dass sie rechtzeitig in die Schule gehen. Die Tagung fängt schon um 8 Uhr an, da möchte ich etwas früher ankommen. In der Schwebebahn ist es um diese Uhrzeit noch relativ ruhig, im Vergleich zu den Tagen, an denen ich später ins Büro fahre. Im Kopf gehe ich die Themen und das Fachvokabular durch. Nur die knallbunte Werbung, die in regelmäßigen Abständen in den Fensterscheiben eingeblendet wird, irritiert mich etwas. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß, vorbei am frischen Duft der Bäckerei und durch die Drehtür.

„Guten Morgen!“, flöte ich in den Raum, während ich meine Brille aktiviere.

„Oh, guten Morgen! Sie sind heute aber früh dran.“ SimOne lächelt mir zu, ruft mein Dashboard auf und hält mit mir Schritt.

„Ja, bin für die Cyber-Security-Tagung eingeteilt. Haben sie gestern Abend noch etwas geschickt?“

Natürlich weiß SimOne schon längst, was heute ansteht. Aber ein bisschen Smalltalk ist immer ganz nett. Ein kurzer Blick auf das Kalendermodul verrät mir, dass Kiran heute Geburtstag hat. Das hätte ich fast vergessen!

„In der Tat, es ist noch etwas für Sie eingegangen. Soll ich die Unterlagen an Ihren Schreibtisch senden oder gehen Sie direkt in die Kabine?“ SimOne flimmert leicht, als wir am Technikraum beim Aufzug vorbeilaufen. Das System ist weiterhin für Interferenzen anfällig – wie ganz früher, als eine laufende Mikrowelle in der Nähe eines Routers für Störungen sorgte. Das R&D-Team preist die neue Technologie an, wo es geht – aber es wird noch dauern, bis sie soweit ist, dass man einen Tagungssaal mit allen Teilnehmern in Echtzeit und Dolmetschqualität im virtuellen Raum übertragen kann.

„Direkt in die Kabine bitte – ich schaue davor noch kurz bei Kiran vorbei. Könntest du auch schon ein paar Flaschen stilles Wasser organisieren?“

„Ja, natürlich. Kiran ist aktuell in Oslo bei einem On-Site-Einsatz und ist erst am Mittwoch wieder im Haus. Aber wenn Sie gleich ein Geschenk aussuchen, kann es bis heute Abend per Drohne ins Hotel geliefert werden.“

SimOne zeigt mir eine Liste mit Geschenkideen, die auf Basis von Kirans Interessen und Aktivitäten erstellt wurde. Ich finde es zwar unheimlich, aber mit dem Algorithmus trifft man zumindest immer ins Schwarze. Während ich mit dem Aufzug an den unterschiedlichen Stockwerken vorbeifahre – Co-Working-Etage, Recherchezentrum, Pausen- und Fitnessräume, Kinderbetreuung, Tagungszentrum – schließe ich die Transaktion ab und bin auch schon beim RSI-Hub angekommen. Ganz unvermittelt muss ich an einen alten Blogeintrag denken, in dem eine Dolmetscherin ihre erste Erfahrung mit RSI schildert:

Dienstag, 14.01.2020

[…]

Wir traten in das Bürogebäude im Industriegebiet ein und wurden gleich im Flur von zwei weiteren Kolleginnen in VKD-blau und Jeans begrüßt. Mir fiel sofort das „On-Air“-Schild bei der nächsten Durchgangstür auf, und ich vermutete, dass sich dahinter der Dolmetschbereich befand.

Und tatsächlich: Auf der linken Seite war zunächst die Regie. Es war eine regelrechte Kommandozentrale mit mehreren Mischpulten und Bildschirmen, auf denen man nicht nur die Bühnen der BrandEx in Dortmund sah, sondern auch unsere Kabinen hier in Neuhausen, in der Nähe von Stuttgart. Einige Bildschirme zeigten Grafiken, Pegelanzeigen und andere Kennzahlen.

Dies war also die Schnittstelle, in der alle eingehenden und ausgehenden Signale gesammelt und gesteuert wurden. Später wurde uns erklärt, dass der Techniker hier nicht nur die Pegel überwachte, sondern auch die Bandbreite im Blick behielt. Außerdem konnte er die Video- und Audiostreams individuell regeln, sodass man in der Kabine jederzeit die beste Qualität hatte.

Rechts war ein Pausenraum, in dem Stehtische mit Wasser sowie ein Rollwagen mit Obst und Süßigkeiten bereitstanden. Schließlich sollten die Dolmetscher nicht vom Fleisch fallen. Ein lichtdurchfluteter Flur führte von hier zu den Kabinen: Englisch, Französisch, Spanisch und noch einmal Englisch für eine weitere Nebenbühne. Es waren großzügige Räume mit einer schlichten und modernen Ausstattung.

Bodentiefe Sichtfenster erlaubten die visuelle Kommunikation mit den Kolleg*innen aus den Nachbarkabinen. Die raumhohen Vorhänge waren nicht nur dekorativ, sie verbesserten die Raumakustik und dienten auch der Vertraulichkeit. Schließlich war es denkbar, dass zwei nebeneinanderstehende Kabinen unterschiedliche Veranstaltungen bedienen und Informationen vor neugierigen Blicken geschützt werden mussten. Ein großer Bildschirm in angenehmer Entfernung diente als Fenster zum heutigen Event.

Auf den Tischen war neben den neusten Dolmetschkonsolen, einem Regieknopf, einem CO2-Monitor, zwei Tischlampen und einem Mehrfachstecker mehr als genügend Platz für alles, was man brauchte. Zudem hatte jede Kabine eine eigene Klimaanlage, sodass man die Innentemperatur individuell regeln konnte.

Anstatt der üblichen starren Stühle, auf denen sowohl Dolmetscher*innen als auch das Publikum bei Konferenzen oft stundenlang ausharren mussten, standen hier ergonomische Bürostühle. Und auch die Tische waren höhenverstellbar. So ließ sich der Arbeitsplatz individuell für jeden Dolmetscher einstellen. Blöd nur, wenn ein*e Kabinenpartner*in klein gewachsen war und der/die andere eher skandinavische Ausmaße hatte: Auf welche Höhe stellte man dann nun den Tisch ein? Aber Scherz beiseite: Was Ausstattung und Komfort anging, waren die Kabinen im RSI-Hub besser für lange Arbeitstage ausgelegt als ihre beweglichen Cousinen in Dortmund.

Während ich die Infrastruktur begutachtete, traf nach und nach das restliche Team ein. Die Stimmung war gelassen, es wurde viel gelacht, man war unter sich. Dass die BrandEx eigentlich schon seit ein paar Stunden im vollen Gange war, hat man nur nebenbei mitbekommen. Ab und an sah man jemanden auf dem Bildschirm, der für unsere Bühne einen Soundcheck durchführte. Aus Präsenzeinsätzen kennt man es, dass manche Moderatoren oder Redner bei den Kabinen vorbeischauen, um die Dolmetscher*innen zu begrüßen und ein paar Infos durchzugeben. In diesem Fall erhielt das Team der zweiten Nebenbühne, die vom Hub aus gedolmetscht wurde, stattdessen einen Videoanruf der Moderatorin.

Pünktlich zum Beginn des ersten Vortrags saßen alle in ihren jeweiligen Kabinen. Es konnte losgehen. Das Bild kam gestochen scharf und es gab keinerlei Verzögerung zwischen der Lippenbewegung und dem Ton. Auch bemerkte ich keine Störungen oder Übertragungslücken, die zusätzliche kognitive Kapazitäten erfordert hätten, um diese auszugleichen. Da hatte ich bei anderen Veranstaltungen, bei denen die Kabinen im Nebenraum waren, aber nicht so viel Wert auf die Übertragungstechnik gelegt wurde, schlechtere Erfahrungen gemacht. Auch die Präsentation, die als Bild-im-Bild gezeigt wurde, lief reibungslos mit. Nur als der Redner kurz aus dem Bild verschwand, war ich etwas von der Tatsache irritiert, dass die Kamera nicht mitgeschwenkt wurde. Das Publikum war bei dieser Veranstaltung nicht zu sehen. Falls es Reaktionen oder Interaktionen mit dem Referenten gegeben hätte, hätten wir diese nicht mitbekommen.

In der ersten Pause machte der Kollege aus der Regie eine kleine Runde, um sich zu erkundigen, ob in den Kabinen alles gepasst hatte. Bei uns war der Ton etwas zu leise gewesen, was umgehend korrigiert wurde. Wäre aber während des Vortrags etwas vorgefallen, hätte man mit dem Regieknopf auch jederzeit Hilfe holen können.

Rein vom Dolmetschen her, fühlte ich mich leicht in meine Studententage zurückversetzt. Wir hatten im Unterricht fast immer mit Videoaufnahmen geübt. Von der Festivalstimmung und dem Drumherum bei der BrandEx haben wir wenig mitbekommen. Dafür mussten wir an den Toiletten nicht anstehen und uns nicht zieren, wenn wir wieder einmal die ersten am Buffet waren. Wir konnten die Küche und die Pausenräume nutzen und uns ungehindert austauschen. Für die Mittagspause hatten wir den Essbereich, wo das Cateringessen bereitstand, für uns. Die Atmosphäre war familiär und entspannt.

Eine der längeren Pausen nutzten wir für eine Präsentation, in der die Technikfirma sich und das RSI-Konzept vorstellte. Fest steht, dass viele Faktoren zusammenkommen müssen, damit beim Ferndolmetschen eine gute Qualität gewährleistet werden kann. Dies bringt oft einen gewissen technischen Aufwand mit sich – und somit höhere Kosten. RSI ist nicht für jede Veranstaltung geeignet, aber es kann ein weiteres Werkzeug in unserem Lösungsrepertoire sein, um besonderen Kundenansprüchen gerecht zu werden.

Als ich mich bei den Kolleg*innen umgehört habe, hatte ich den Eindruck, dass die meisten mit diesem Setting zufrieden waren. Niemand hatte das Gefühl, dass die Dolmetschleistung schlechter oder die Arbeit anstrengender gewesen wäre als vor Ort. Aber irgendwie hat dieses Grundkribbeln, dieser Trubel und der Reiz der Konferenzen, doch gefehlt.

Vor allem diejenigen aus der näheren Umgebung könnten es sich vorstellen, öfter im Hub zu arbeiten. Möglicherweise ist es auch Typsache oder tagesformabhängig. Nicht jeder will durchgehend mittendrin im Geschehen sein und sich jedes Mal auf ein neues Arbeitsumfeld einstellen müssen. Die Wege sind kurz, man hat weniger Reisevorbereitung und mehr Zeit für die Familie. Es ist eine beständig gute Arbeitsumgebung, und es muss nicht immer gleich ein Kostüm oder Hosenanzug sein. Es fühlte sich eher wie ein normaler Arbeitsalltag im Büro an. Nichtsdestotrotz würde keiner die Präsenzeinsätze missen wollen: „Die richtige Mischung macht’s.“

Die Cyber-Security Tagung wird pünktlich um 13 Uhr beendet. Ich gönne mir eine längere Mittagspause, bevor ich mich im Co-Working-Bereich noch um die Nachbearbeitung kümmere. Beim Spaziergang scheint mir die Sonne angenehm ins Gesicht, und ich denke noch einmal an den Blogeintrag. Wie aufregend diese Zeiten gewesen sein müssen! Und wie beängstigend. Viele hatten vor den technischen Entwicklungen Angst – vor allem vor der künstlichen Intelligenz. Manche fürchteten um ihren Beruf, andere blickten mit gemischten Gefühlen in eine ungewisse Zukunft. Und wieder andere Schritten unerschrocken voran. Wenn ich nur in der Zeit zurückreisen könnte, um ihnen zu zeigen, wie sich alles entwickelt hat!

Ein grünes Licht blinkt an mein KomGerät auf.

„Hallo SimOne – was gibt’s?“

„Sie haben gerade eine dringende Anfrage für morgen erhalten. Der Kunde möchte, ich zitiere: ‚eine Synchronübersetzung eines einstündigen Vortrags mit anschließender Diskussion für einen ausländischen Teilnehmer‘. Er schreibt, dass ihr Budget etwas knapp sei und ob Sie den Auftrag auch alleine übernehmen könnten. Es würde ausreichen, wenn Sie grob zusammenfassen, was gesagt wird.“

Einiges hat sich verändert, ja – aber so Vieles ist im Grunde genommen gleich geblieben.

Johanna González – johanna@trilingu.de